Stephan Maus

Judith Kuckart: ‘Kaiserstraße’ (SZ)

Blümchenmuster auf Seelentapete: Judith Kuckart verfeinert die Lore-Heft-Poetik: “Kaiserstraße” (SZ, 14.03.2006, Literaturbeilage)

Leo und Liz Böwe sind eine dieser bedauernswerten Keimzellen des deutschen Wirtschaftswunders. Was arbeitet der Mensch so in den Fünfzigern? Waschmaschinenvertreter natürlich, denn nichts braucht das schuldbefrachtete Land so sehr wie weiße Laibchen. Wie liebt man so im Bannkreis der Nierentische? Klar, mit spießiger Unaufrichtigkeit, die einem gegen Abend scharfkantig ins Gemüt kiekst wie der Nierentisch ins triste Halbdämmer. Und was ziert das Innere unserer rätselhaften Vorfahren? Schnell vergilbende Blümchenmuster auf der Seelentapete. Was aber, erzähle mir, oh Muse, ist des homo oeconomicus mirabilis innigstes Begehr? Sein ballettanzendes Töchterchen wenn möglich zur RAF-Terroristin zu erziehen, sie mindestens aber schwer zu verkorksen.

Der Waschmaschinenvertreter Leo Böwe liest am liebsten den Verkaufsratgeber „Die heimlichen Verführer“. Mehr ist eigentlich nicht über diese Klischeefigur zu sagen. Das Leben dieses vorgestanzten Nachkriegsmenschen ist so abgedichtet wie die Waschmaschinen, die er verkauft. Doch Leo kennt keinen Schleudergang. Das größte Abenteuer, zu dem er sich aufschwingen kann, ist das schäbige Doppelleben eines Ehebrechers, der durch seine Lieblosigkeit seine dümmlichen Gattin Liz malträtiert, als wäre diese nicht schon genug mit ihrer stereotypen Romannebenrolle gestraft. Irgendwann muß Liz dann ihr Leben in einem Laden für Trauerkleidung gleich neben dem Friedhof beerdigen, auch so ein dramaturgischer Einfall – Kuckart kommt vom Tanztheater.

Leo stopft so viele Lebenslügen in seine kalte Herztrommel wie Liz schmutzige Socken in ihren Frontlader. Lebenslänglich ist er fasziniert von Geschichten über den Mord an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt. In „abendwehen“ Tagträumereien über Boulevardnachrichten sublimiert der Spießer seine verdrängte Abenteuer- und Lebenslust. Wie man nun als Wirtschaftswunderkind sein Leben meistern soll, wird uns Leos und Liz’ seelisch überreizte Tochter Jule vorführen, deren Lebensstationen Kuckart in ihrem sentimentgetränkten Roman nachzeichnet. In diesem Text ist alles so beseelt, daß sogar das Licht innerhalb von fünf Seiten gleich zwei Mal frieren kann.

1957, 1967, 1977, 1989, 1999. Im Weichspülgang geht Kuckart noch einmal die letzten fünfzig Jahre der BRD durch, wobei sie die Epoche nicht ein einziges Mal aus einer überraschenden Perspektive beleuchtet. Wieder einmal riecht es nach Putzmittel in den Fluren der Republik. Der Text ist eine Collage aus hundert Mal beschriebenen und gesendeten Zeitbildern. Die konventionelle Geschichts-Nachhilfestunde wird mit einem naiven Handlungsreisenden-Realismus gestaltet. Ist dafür Wolfgang Koeppen gestorben? Ist Arno Schmidt für eine solche erzähltechnische Ahnungslosigkeit durch sein Heidemartyrium gegangen?

Der Roman wird Opfer eben jenes Spießertums, das er anprangern will. Das Sujet hat seine verheerenden Spuren in der Ästhetik hinterlassen. Kuckarts Neobiedermeier läßt keine Frage offen. Das Geheimnis einer jeden Figur wird mit einem Halbsatz erklärt. Die Psyche ist hier so unkompliziert wie im Montagshoroskop. Der Roman arbeitet an der Veredelung der Lore-Heft-Poetik. In verzweifelter Kunstanstrengung zurrt Kuckart ihre Motive zu einem starren Korsett zusammen. Billige Symbolschminke erstickt jede Poesie im Ansatz.

Vom Handlungsverlauf bis ins kleinste Bild wirkt der Roman gezwungen. Jeder Absatz tröpfelt in einer dieser typischen BRD-Nachkriegsprosakadenzen aus, die den widerwilligen Leser in einen bittersüß lasierten Nierentischblues hineinbugsieren möchte: „Der abgebrochene Kopf der Nelke lag auf dem Gehsteig vor dem Kino.“ Werden keine Blumen geköpft, geht’s dem beseelten Mobiliar an den Kragen: „Die Tischdecke verwelkte.“ Jedes noch so kleine Detail bekommt einen Gemütszustand übergestülpt. Immer gibt es einen Vergleich zu viel, und der ist dann genau eine Nummer zu groß.

Penetrant stoßen gewollte Symmetrien und Korrespondenzen den Leser auf pathetischen Bedeutungsüberschuß. Eine Wollmütze, die Jule am Sylvesterabend in Berlin verliert, entdeckt Leo später auf dem Kopf einer rumänischen Akkordeonspieler wieder. Nur der beißende Ostwind weiß, was es bedeuten soll. Mit solch willkürlichem „Manhattan Transfer“-Motivzauber ist heute kein Metropolenfeeling mehr zu erzeugen.

Schon der Romantitel verweist auf überkonstruierten Krampf: Sofort nach Leos Karrieresprung ziehen die Böwes in die Kaiserstraße ihres Provinzstädtchens. So versucht Leo, sein Schicksal mit dem der Prostituierten Nitribitt zu verschränken, die in der Frankfurter Kaiserstraße ermordet wurde. Die ermordete Prostituierte wird zum Symbol aller verdrängten Wünsche. Nitribitt verkaufte Liebe und wurde ermordet, Leo verkaufte seine Träume und meuchelt sein Leben. Am Ende des Romans steht er in der Wohnung der Ermordeten, die unterschwellig sein ganzes Leben beherrscht hat.

Hier hat Kuckart nun ein allerletztes Symbol im Ausverkauf, denn alles muß raus: In einer Ecke steht ein Plattenspieler der Marke Braun, Typ Schneewittchensarg. Der symbolische Märchensarg entlarvt die Schwäche des Romans: „Das Gehäuse bestand aus naturbleichem Ahorn und war mit einem Plexiglasdeckel, der keine der Funktionen verbarg, formschön zu verschließen.“ Es gibt in diesem Text kein Geheimnis. Die Funktion all seiner Komponenten liegt offen zutage. Sie besteht darin, den Leser in größtmögliche Gefühlsaufwallung zu manövrieren. Heraus kommt pseudo-einfühlsame Identifikationsprosa, die von plakativer Klinkenputzerrhetorik dominiert wird.

Schon mehrfach wurde Kuckart als Meisterin der Sinnlichkeit gefeiert, was sie in diesem Roman zur Konstruktion von grotesken erotischen Verwicklungen anzuspornen scheint. Jules schwül-schwurbeliges Liebesleben spannt sich zwischen den Polen einer Entjungferung durch eine zwanzig Jahre ältere Vaterfigur und einer erfüllenden Schwängerung durch einen zwanzig Jahre jüngeren Apoll. Mögen sich Paartherapeuten mit der Analyse solch hanebüchener Psychosymmetrien beschäftigen.

„Ein Roman ist ein Spiegel, der sich auf einer großen Straße fortbewegt“, zitiert Kuckart Stendhal im Motto ihres Romans. Schön wär’s. „Kaiserstraße“ ist ein schminkeverschmierter Handspiegel, den Hedwig Courths-Maler durch die Lindenstraße spazieren trägt.


Judith Kuckart: Kaiserstraße. Roman, DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, 317 S., 19,90 Euro