Stephan Maus

Frank Goosen: ‘Pink Moon’ (SZ)

Tresenkost ohne Deko-Petersilie. Via Mond direkt ins Herz: Frank Goosens Vaterroman “Pink Moon” (SZ, 30.03.2006)

Ist die aktuelle Flut von Familienromanen nun eigentlich schon böse neokon oder gehören das rituelle Blättern in Fotoalben und die lustvollen Kletterpartien durch den Stammbaum einfach inzwischen zu den allgemein menschlichen Reflexen gegen zunehmende Unbehaustheit in unserer globalisierten Welt?

Felix Nowak wird um die dreißig sein, so genau weiß er das wahrscheinlich selber nicht. Er steht ganz und gar unbeteiligt in seinem Leben. Er kann es sich leisten, denn er ist Inhaber eines gut laufenden Luxusrestaurants. Sein Geschäftsführer Walter kümmert sich anscheinend vorbildlich um das Etablissement. Nowak schaut nur manchmal vorbei, wischt ein bißchen über den Tresen und prüft, ob die Klos auch sauber sind und navigiert ansonsten recht desorientiert durch seine Biographie. Felix könnte glücklich sein. Ist er aber nicht. Unglücklich ist er allerdings auch nicht. Er ist rechtmäßiger Inhaber seines Lebens, scheint aber jemand anderen als Geschäftsführer eingesetzt zu haben. Nur wen?

Einen Tag nach der Beerdigung seiner Mutter erblickt er in der Stadt seinen Vater, den er nur noch von einem Foto kennt. Seine Mutter hatte ihm erzählt, der große Tänzer und Verführer, der Mann ihres Lebens, Otto Simanek, sei schon lange gestorben. Diese Lüge verschafft Frank Goosen den schwer teasenden Eröffnungssatz seines Romans: „Ich sah meinen Vater erstmals neunzehn Jahre nach seinem Tod.“

Ein Vaterroman eines frischen Vaters, will der klappentextkundige Leser schon aufstöhnen, doch was der Autor seinem ersten Satz folgen läßt, ist zum Glück kein zähes Schlammcatchen mit Ich, Über-Ich und Es oder gar wildes Ödipussieren. Dazu läßt Goosen seiner Figur keine Gelegenheit. Felix versucht zwar, dem lange vermißten Vater auf den Fersen zu bleiben, doch Otto Simanek verschwindet so schnell, wie er erschienen ist. Ohne Sentimentalitäten schildert Goosen nun das verspätete Erwachsenwerden eines jungen Mannes, der sich mit dem Tod der Mutter und dem Verschwinden aller väterlichen Phantombilder langsam seinem eigenen Leben öffnet. Das plötzlich ganz deutlich spürbare Vakuum, das der abwesende Vater hinterlassen hat, scheint einen wahren Unterdruck zu erzeugen, der eine Extraportion Lebensfülle auf Felix einströmen läßt. Drei Wochen dauert es, bis Felix seinen Vater auf den letzten Seiten endlich wiederfindet, und in diesen drei Wochen ändert er sein Leben. Am Ende braucht er den so lange ersehnten Vater nicht mehr.

„Liegen lernen“ hieß Goosens erster Roman, um Leben lernen geht es in seinem dritten. Der Titel „Pink Moon“ ist einem Song von Nick Drake entliehen, und auch die Ästhetik des Textes lehnt sich an die von Pop-Lyrics an: Quatsch keene Oper, sondern erzähl eine gute Geschichte mit einfachen, direkten Mitteln. Frank Goosen hat sich zu einem makellosen Unterhaltungsschriftsteller entwickelt. Bevor er Autor wurde, ist er jahrelang zusammen mit Jochen Malmsheimer als „Tresenleser“ durch Kneipen getingelt. Ein perfektes Duo: Goosen, das pralle, vergnügliche Leben mit Mondgesicht, mal mehr, mal weniger pink, Malmsheimer, der hagere Bühnenneurotiker mit dem durchscheinenden Nervenkostüm. Vor Publikum hat Goosen das perfekt Timing guter Dramaturgie gelernt. Im Ruhrgebiet hat er angefangen, dort lebt er immer noch. So wie „Pink Moon“ hat man sich Ruhrgebietsgeschichten immer vorgestellt: gerade heraus, trocken, aber mit Herz. Wahrscheinlich tritt Frank Goosen demnächst mit Ralf Rothmann auf Schalke zum Ruhrgebietsderby an.

Goosen schreibt ohne stilistische Effektpedale. Er übt sich in absoluter Bilder- und Metaphernaskese. Seine soliden Tresenkost ist frei von jeder Deko-Petersilie. Vor dem Zapfhahn hat Goosen souveräne Dialogführung gelernt. Seine Figuren reden nicht lange um den heißen Brei, sondern treffen pointensicher ins Schwarze. Bei aller Lakonik schreibt Goosen eindringliche Porträts. Mit seiner alten Liebe Maxima spielt Felix ein Charakterisierungsspiel: Zu jedem Passanten denken sich die beiden eine originelle Kurzbiographie aus. Ähnlich geht auch Goosen vor: In den drei Wochen seiner Lebensschule trifft Felix auf weit mehr als ein Dutzend Personen, die meist ebenso desorientiert sind wie er. Goosen zeigt hier sein Herz für Freaks, manchmal vielleicht etwas zu freizügig. Hin und wieder ist diese Outcast-Folklore etwas zu penetrant. Immerhin verfügt jede Figur über ein reiches, genau beobachtetes Gestenrepertoire. Allesamt führen sie das melancholische Ballett eines ermüdenden Lebens im Fall Out geplatzter Träume auf. Die Energischeren unter ihnen raffen sich irgendwann dazu auf, ihr Leben umzukrempeln und auszumisten. Die Lethargischeren hingegen verstricken sich immer tiefer in lähmende Abhängigkeiten.

Viele Familienleben inspiziert Felix in dieser Zeit. Goosen liefert dabei ein Aperçu unterschiedlichster Lebensmodelle. Dabei entwickelt er sich en passant zum interessierten Wohnungsethnologen. Er dechiffriert das deutsche Regalwesen, studiert den Glastisch in all seinen überraschend schauderhaften Funktionen, schaut unter Betten und zwischen Sofa-Kissen und fördert überall traurige Indizien vereinsamter Existenzen zutage. Nur selten geraten ihm dabei einige charakteristische Details zur simplen Karikatur: Eine Platte von Phil Collins im verdammenswerten CD-Regal gehört inzwischen zum halbironischen Accessoire jeder kabarettistischen Kleinkunstbühne. Über das Niveau ist der Text sonst eigentlich hinaus.

Uneingeschränkt gekonnt hingegen ist das Informationsmanagement dieses Romans. Nach und nach enthüllt der Autor in sorgfältig arrangierten Rückblenden die Vita seines Helden. Dabei erweist er sich als sehr geschickt im Plazieren enthüllender Schlaglichter auf Felix’ Biographie und Charakter. Ist Goosens Stil ohne jedes Auftrumpfen, so muß man seine Dramaturgie fast schon als effektheischend bezeichnen: Jede biographische Rückblende zielt direkt auf das Herz des Lesers. Eine solch gewiefte Überrumpelungsdramaturgie kennt man sonst nur aus Hollywood. Goosen hat einen handwerklich perfekten Vater-Sohn-Blues geschrieben. Den Innovationspreis der deutschen Prosa-Innung bekommt man mit solch konventionellen Feelgood-Geschichten allerdings nicht.


Frank Goosen: Pink Moon. Roman, Eichborn Verlag, Frankfurt 2005, 300 S., 19,90 Euro