Oh, wie schön ist Paraguay: Deutsche Dekadenzdandys über eine nietzeanische Dschungel-Utopie von 1887 (SZ, 21.03.2006)
Die Torstraße in Berlin Mitte ist noch eine der wenigen Straßen, in denen sich die hochrenovierte und kulissenhaft zurechtgespachtelte Hauptstadt von ihrer provisorischen Seite zeigt. Ein, zwei Kilometer von Angela Merkels Hauptstadtwohnung entfernt bröselt die Konkursmasse und klaffen die Improvisationsräume. Irgendwo zwischen einem leerstehenden „Cosmetic- und Nail-Art Studio“ und einem Hörgeräte-Shop leuchtet ein nackter Galeriekubus in utopischem Weiß aus der grauen Fassade heraus. Hier entsteht Kunst in inspirierender Nachbarschaft zum Sarg-Discounter.
Schon vor Jahren ist der listige Dadaist Rafael Horzon dem Ruf nach Eliteuniversitäten zuvorgekommen und hat in der Torstraße seine Wissenschaftsakademie in den kargen Räumen seines amüsanten Designprojektes redesigndeutschland eingerichtet, wo nun der Verkauf von puristischen Möbeln absurde Vorlesungshappenings quersubventioniert. Hier kann der interessierte Dada-Jünger regelmäßig fundierte Propädeutika zum Schabrackentapir und zu ähnlich jungfräulichen Forschungsgebieten belegen und dabei auf Preßspansesseln lagern, die komfortable Hybriden aus Ikeas Billy-Regal und Mies van der Rohes Barcelona-Stuhl sind. Nach jeder Veranstaltung werden Seminarscheine abgestempelt. Vier Scheine führen zum Studienabschluß. Auf die Frage, was ein Diplom seiner Akademie denn wert sei, antwortete Horzon einmal treffend: „Genau so viel wie ein Abschluß an der öffentlichen Uni. Im Zweifelsfalle nämlich gar nichts.“ Wir schneiden vielleicht bei Pisa schlechter ab als unsere Nachbarn, aber dafür sind Dadaisten made in Germany immer noch europaweit führend.
Am Wochenende stand in der Berliner Wissenschaftsakademie das erste Kompaktseminar des Frühlings-Trimesters im Fach Anthropologie an. So grotesk Horzons Themen sind, so renommiert sind seine Dozenten. Die Frühjahrsreferenten waren der Schriftsteller Christian Kracht, der kluge Guerilla-Dirigent Christian von Borries und der amerikanische Künstler und Komponist Dr. David Woodard, der unter anderem ein Prequiem zur Rettung der Seele des Oklahoma-Bombers Timothy McVeigh in seiner Werkliste aufzuweisen hat. Well, well. Alle drei Künstler existieren wirklich und waren auch leibhaftig anwesend, was an diesem Abend voller Maskeraden und Verwirrspiele nicht eben selbstverständlich war.
Das Seminarthema lautete „Gescheiterte Eugenik im Dschungel Paraguays“. Mit Hilfe eines Beamers tauchten die Dozenten in einen Dschungel von historischen und aktuellen Anekdoten über die germanische Rassenutopie namens Nueva Germania in Paraguay, wo sich Ende des 19. Jahrhunderts deutsche Siedler tief im östlichen Urwaldgebiet mitsamt ihrem kranken Kulturgut niederließen. In dada- bis gagaistischen Assoziationen, Installations-, Performance- und Expeditionsberichten umkreisten die Referenten die haarsträubende Rassenutopie von Friedrich Nietzsches derangierter Schwester Elisabeth Nietzsche-Förster und ihrem verwirrten Mann Bernhard Förster, die in einem Desaster aus Malaria, Denguefieber, Dysenterie, Typhus, Tuberkulose, Sandfliegen-Leischmaneisis, Polio, Suizid und Degeneration des wertvollen germanischen Erbgutes durch Unzucht mit Indios endete. Der Nazi-Tragödie ging eine nietzeanische Dschungel-Farce voraus. Der Übermensch versank im Morast und entleerte sich in Diarrhöekrämpfen.
Kracht hat das 1887 gegründete Dschungeldorf besucht und ein Interview mit einem Förster-Nachfahren heimgebracht. Dazu Fotos von flugrostlegierten Straßenschildern mit dem Schriftzug „Elisabeth Nigtz Chen“, von Kätzchen (arisch? indianisch?) auf Schaukelstühlen und von verwucherten Dschungelschuppen: „This is Dr. Schubert with his guns.“ Dr. David Woodard, fascinated by Wagner’s music und an diesem Abend unbewaffnet, berichtete von seinen Investorenreisen in die überwucherte deutsche Kolonie, wo er nun im Rahmen einer Städtepartnerschaft mit dem kalifornischen Juniperhills den „Elisabeth Nietzsche’s Yaba Maté-Tee“ anbaut. Das kann er, denn er ist auch der Bürgermeister von Juniperhills. Dr. Woodard verschiebt die genetischen Experimente der deutschen Siedler ins Botanisch-Ironische und will nun im Dschungel von Paraguay auch die Kim Jong Il-Orchidee züchten. Nordkorea zögert noch. Unterdessen bemüht sich Dr. Woodard redlich, die lethargische Dschungelwirtschaft mit der Produktion der von William Burroughs erdachten Dream Machine zu beleben. Iranische Atombomben will er dort noch nicht bauen. Seine Unternehmungen werden angeblich auch von Dick Cheney unterstützt. It’s the art-business, stupid! So weben die Künstler an einem immer verworreneren semiotischen Netz.
Der gescheite Dirigent Christian von Borries schließlich ist Christian Krachts Ruf gefolgt und auf einem Seelenverkäufer an Pirañas vorbei den Rio Aguaray hinauf ins Herz der Finsternis gereist, wohl um nachzuschauen, was diese Kaspereien eines deutschen Décadents und eines amerikanischen Dandys mit dem Namen eines zwielichtigen Dschungeldoktors aus „Tim und Struppi“ nun eigentlich zu bedeuten haben. Von Borries kam mit einen klugen Essay zurück. Er war der einzige Referent, der bereit war, sein Thema mit analytischem Impetus zu behandeln. Sein scharfsinnig bebender Text war eine verdichtete Reisereportage, die alle absonderlichen Verzweigungen der gescheiterten germanischen Dschungelutopie exakt nachzeichnete und dabei niemanden verschonte, auch nicht den Springer-Mann Mathias Döpfner und sein Erbauungsblatt für Männer in pastellfarbenen Rautenpullis „Der Freund“, das Kracht einen Gutteil seiner kosmopolitischen Umtriebe zahlt und druckt.
Kracht und Dr. Woodard hingegen beschränkten sich darauf, anekdotisch und smart mit all dem skurrilen Irrwitz zu tändeln und schelmisch grienenden Rassen-Dada zu produzieren. „Irony is over“, hatte Kracht noch vor einigen Jahren dekretiert. Das kann nur ironisch gemeint gewesen sein. Denn seine Hauptqualifikation als Referent an diesem Abend bestand darin, angesichts all seiner absurden Clownerien nicht lauthals loszuprusten.
Zum Schluß der Veranstaltung stellte von Borries die berechtigte Frage, warum sich eine dekadente deutsche Jugend gerade diese Dschungelutopie zur Projektionsfläche aussucht. Tatsächlich würde man gerne wissen, welchen läuternden Reinheitsutopien Kracht jetzt schon wieder nachhängt, nachdem der von westlicher Partydekadenz saturierte Held seines letzten Romans „1979“ seine spirituelle Freiheit erst in einem chinesischen Arbeitslager finden konnte.
Ob all diese Fragen im anschließenden Studenten-Chill Out noch befriedigend geklärt werden konnten, muß im Dunkeln bleiben, denn leider hat redesigndeutschland in seiner Eliteuniversität eine Seminartoilette vergessen, weshalb der Reporter die utopisch weißen Räume im Dschungel von Mitte eilig verlassen mußte. Natürlich nicht, ohne zuvor noch unauffällig 340 Gramm entwässernden Elisabeth Nigtz Chen Yerba Maté-Tee mitgehen zu lassen („Sharp thinking!“, „Great for ballroom dancing balance!“), während Christian Kracht höflich, aber energisch die Proseminarscheine eines verwirrten Publikums abstempelte (gültig an allen deutschen Hochschulen).