Im Räderwerk der Nazi-Geisterbahn. Michael Wallners Historienschmonzette April in Paris (stern, HEFT 16, 12.04.2006)
Frankfurt, Buchmesse 2005: Gähnend zogen die internationalen Literaturagenten ihre Hotelzimmertüren ins Schloß, tauschten Anzug gegen Agentenbademantel und begannen, in einer ins Englische übersetzten Textprobe aus einem deutschsprachigen Historienroman zu blättern. Erst glühten ihre Wangen, dann ihre Handys: Der 80-seitige Teaser zu Michael Wallners Roman „April in Paris“ wurde zum heißesten Ding der Messe. Als die Agentenbademäntel wieder in den Koffern verschwunden waren, war der Roman in 13 Länder und 4 Kontinente verkauft. Jetzt ist er hierzulande erschienen.
Für den deutschsprachigen Autor gibt es nur ein sicheres Mittel, den Bookscout aus seiner Messelethargie zu reißen: Flatternde Hakenkreuzstandarten und funkelnde Totenkopfkoppeln. Will ein Kraut in die internationalen Entertainment-Charts, muß er Opas Uniform vom Dachboden holen. Das wußte schon der Regisseur Oliver Hirschbiegel und schnappte sich kurzerhand den ganzen Adolf. Aber die weltweiten Couch-Potatoes wollen nicht ständig vorm Führerbunker hocken. Frischluft! Liebe! Old Europe! Was ist da schöner, als Paris im Frühling? Well, my love, das besetzte Paris im Frühling. Und viel schöner noch als das besetzte Paris, mon ami, ist die unterjochte Pariserin. Pigalle toppt die Wolfsschanze, freudig bebt der Agentenbademantel.
Der Wehrmachtssoldat Roth wird als Dolmetscher in die Pariser SS-Zentrale abkommandiert. Die Totenköpfler sind die Bösen, unser Obergefreiter ist nur ein einfacher Landser: Opa war kein Mörder. Im Marschgepäck trägt der Schöngeist La Fontaines „Fabeln“. Nach einfühlsamer Übersetzung von Folterprotokollen verwandelt sich Roth am Feierabend in Monsieur Antoine und flaniert als französischer Zivilist durch die Stadt der Liebe. Das steht zwar unter Strafe, aber sirenengleich locken die Melodien des Musette-Akkordeons. Paris ist einen Kopfschuß wert. Auf einem seiner Abendspaziergänge trifft Roth die Buchhändlertochter und Vaudeville-Beauté Chantal. Vom Himmel hoch, da kommt sie her: „Die junge Frau saß regungslos auf einem Stein, der vor dem Buchladen lag wie ein vom Himmel gefallener Fels.“ Der lesende Engel lebt in instinktiver Harmonie mit anderen Flügelwesen: „Ein Schmetterling landete auf dem Fensterbrett. Als habe jemand sie angestoßen, fuhr ihr Kopf hoch.“
Bald wird unser Kulturteutone seine Schmetterlingsfrau bestäuben, um zwischen ihren pfirsichsanften Froschschenkeln vollends den Kopf zu verlieren. Bis zur Geburt von Monsieur Antoines Töchterchen Antoinette muß Wallner seinen Roman durch alle Pflichtstationen der Nazi-Geisterbahn jagen: Chantal entpuppt sich als Résistance-Kampfschmetterling, und Roth balanciert auf der Maginot-Linie zwischen Dienstpflicht und Amour Fou. Was folgt, ist ein grotesker Karneval aus Sperrstunden-Softporno und Kerkerdrama. Die Dialoge klingen wie aus dem Japanischen übersetzte Karaoke-Hits. Feldgrau ist der Stoff, aus dem die Historienschmonzetten sind.
Nun ist eigentlich nichts gegen Schmierentheater fürs Tränenbad zwischendurch einzuwenden. Jeder kennt Heißhungerattacken auf Junkfood. Doch wahrhaft unappetitlich ist die Schamlosigkeit, mit der Wallner das letzte Quäntchen Rührseligkeit aus seinem Nazi-Melodram quetscht. Mit geradezu revisionistischer Unverkrampftheit wird hier die düsterste Epoche der Moderne als schaurige Folie für billiges Entertainment mißbraucht. Opas Verbrechen bescheren den Enkeln die schönsten Kassenschlager.
En passant lernen wir, daß selbst der SS-Kamerad zwischen zwei Folterstündchen seine besinnliche Zigarettenpause hatte. Vor allem aber scheint uns Wallner mit seinem Tränenaufguß eintrichtern zu wollen, daß die Nazis eigentlich nicht Europa unterworfen haben, sondern all die netten Wehrmachtsträumerle, die nichts anderes im Sinn hatten, als im Versmaß klassischer Moralisten zu schwelgen und zwischen zwei Fabeln mit der sexy Schmetterlingsfrau aus der franko-germanischen Lesegruppe die Bettwurst aufs Parkett zu schicken. Wallners Roman über einen Opportunisten ist ein opportunistisches Rührstück.
Michael Wallner: April in Paris. Roman, Luchterhand Literaturverlag, München 2006, 238 S., 19,95 Euro