Der Tag, als Eva Schuster anrief. Dagmar Leupold verwurstet, was von der Tagung übrigblieb: Alphabet zu Fuß. Essays zur Literatur (SZ, 18.05.06)
„Es war in diesem Literaturhaus“, nein, „es war bei einer Lesung“, ach was, war es nicht „bei einem Seminar für (zukünftige) Romanautoren“, halt, ich glaube, es war doch eher „auf einer Reise nach Darmstadt zum Deutschen Literaturfonds“, nein, stimmt ja gar nicht, jetzt hab’ ich’s, es war der Tag, „als mich Eva Schuster vom Kulturreferat anrief.“ Deutschland, deine Evas, deine Kulturreferate, Literaturhäuser, Autorenseminare und Dichterfonds! Darmstadt, endlich Darmstadt…
Unersättlich ist des summsenden Literaturbetriebs Hunger auf Heißluft, Brosamen vom Musenkonferenztisch und olympisch gelockter Hobelspäne von der Poetenwerkbank. Unablässig müssen Tagungs- und Veranstaltungsräume gefüllt, ein Dichter vors Mikrophon gezerrt, muß inspiriert am Wasserglas genippt werden. Warum aber läßt man den Dichter nicht einfach in Frieden dichten? Schon klar, die Mühlen wollen mahlen, der Dichter braucht das Fördergeld.
Die Romancière und Poétesse Dagmar Leupold schlägt keine Einladung aus. Sie ist stolz darauf dazuzugehören. In einem Moment atemraubender Offenheit resümiert sie in ihrem neuen Essayband das ganze Drama des bundesrepublikanischen Autors in den mittleren Jahren: „Steht man zu seiner westdeutschen Nachkriegsdurchschnittlichkeit, einem Gefühl der Unwesentlichkeit, das überdies gesteigert wird durch das Trauma einer für ’68 zu spät Geborenen, bleibt noch die Möglichkeit der Selbstmystifikation im Text und der damit verbundene Trost, den Literaturpreise bieten.“ Dies ist der weiseste und schrecklichste Satz in diesem an schrecklichen Sätzen nicht armen Band, und er ist eine Bankrotterklärung der Literatur, deren heilsbringende Kraft und hehren Stolz Leupold sonst so sehr beschwört. Dieser Satz faßt der Dichterin ganzes Drama zusammen. Wie Trophäen führt sie all die Betriebseinladungen an und zelebriert dabei ihr Dasein als trotz allem irgendwie doch glückliche Betriebsnudel in der lau wallenden BRD-Buchstabensuppe. So reist und doziert und poetologisiert sie schlawinernd durch die Landen, und heraus kommt das Weiße Rauschen der Kulturindustrie.
Die Kernstücke dieses Essaybandes voller Gebrauchstexte für die große Kulturkäseglocke bilden drei Vorlesungen, die Leupold im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehalten hat. Hat der Dichter im Miles-and-More-Programm des Betriebs genug Bonuspunkte gesammelt, gibt man ihm eine Poetik-Dozentur. Also Kiel. Hier entwickelt Leupold ihre dialektische Poetik des Vergessens, Erinnerns und Korrespondierens, die für sie die „energetischen Formen poetischen Sprechens, Speicherns und poetischer Verarbeitung“ sind. Rock ’n’ Roll.
In Kiel rappelt’s dann ordentlich im Metaphernkarton. Die erste Vorlesung zur Poetik des Vergessens ist dabei sicher der erbaulichste Teil der Veranstaltung. Ist es nicht eine herrliche Wortklauberei, das hierarchielose Vergessen als conditio sine qua non des Erinnerns zu feiern? Gern läßt man sich von säuselnder Theorielyrik einlullen, nickt ein paar sophistische Volten ab, ja, das klingt alles nur zu einleuchtend: Wem wären nicht auch schon die Felle den Lethe hinuntergeschwommen, und wer hätte sie nicht Jahre später jubilierend als silbrig triefende Pelzverbrämung eines coelestischen Glücksmoments wieder aus dem Naß gezogen? Aber jetzt wollen wir diese Poetologie des Vergessens auch ganz schnell wieder vergessen.
In ihren ästhetischen Erkundungen träumt Leupold von der Utopie einer neuen Sprache, einem ganz anderen Seins-Dialekt. Dabei beruft sie sich mehrmals auf Ingeborg Bachmann. Beiden geht es um die radikale Neuerfindung der Sprache: „Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen.“ Dieser Traum von der richtigen Sprache steht bei Leupold im grellen Widerspruch zu ihren jargontriefenden akademischen Werkstattberichten. Ichtrunken aalt sich die Ichterin in der Hobelspäne ihrer doch ziemlich grob geschnitzten Werkstücke. Nichts will tragischer erscheinen als der Widerspruch zwischen einer Feier der Poesie als Ort der ganz anderen Erfahrung und dem mechanischen Bedienen des Betriebs mit all den gängigen literaturtheoretischen Floskeln, die hier noch mit ein paar trendigen mythologischen Referenzen angereichert werden.
In ihren Essays aktiviert Leupold den ganzen hohl tönenden Apparat der pathetischen Poesieverherrlichung. Wie immer, wenn ein locker assoziierter Parforceritt durch Kraut und Rüben ansteht, werden die Modeheiligen des akademischen Literaturdiskurses angerufen. Und sofort sind phrasendreschend Baudrillard, Bataille und Konsorten zur Stelle, die auch nichts dafür können, inzwischen derart inflationäre Münze auf dem großen Umschlagplatz der Literaturgemeinplätze geworden zu sein. Oder etwa doch? Kaum kippt Leupold beim Tagungs-Chill-Out einem Nachwuchsautor ein Weißbier über den Hosenlatz, kommt sofort Roland Barthes zum Großeinsatz: „Mein Körper hat nicht dieselben Ideen wir ich.“
Hin und wieder flicht Leupold eigene Werke in ihre Werkstattberichte ein. Ihre Gedichte sind ungekünstelt, beinahe schon naiv. Seltsam ist der Kontrast zwischen diesen einfachen Versen und dem aufgeblähten ästhetischen Diskurs, der sie umwuchert und umrankt. Man könnte auch sagen, Leupold schickt hinter einem Bollwerk von Theoriekanonen recht flügellahme Spatzen in den Äther. Im Lichte des poetologischen Dreiklangs Vergessen, Erinnern und korrespondieren wird klar, daß diese Lyrikerin ihre Gedichte eher begreift als etwas, das willkürlich auftaucht, nicht als etwas, das der Welt ingeniös in die Mechanik geschraubt wird. Ihre Gedichte sind vor allem Notate von Epiphanien, zeugen von Sekunden der wahren Empfindung, schwelgen in Erinnerungen an vergangenes Glück und können dabei niemals so recht ihre Zeilenumbrüche begründen. Was ist hier schon Poesie, was noch Tagebucheintragung im Flattersatz?
In einem Essay zum interessanten Thema Geld und Geist hätte Leupold nun wahrlich Gelegenheit gehabt, über den tragischen Konflikt zwischen dem ritualisierten Betriebsgeschwätz mit all seinen Theorie-Gassenhauern und einer tief empfundenen poetischen Sprache nachzudenken, ein Konflikt, in dem sich jeder Dichter befindet, will er heutzutage auch nur einen Pfennig mit seinem Schaffen verdienen. Aber wieder nur serviert sie dem Leser ihre heilsbringende Vision vom Erzählen und Dichten als verschwenderische, unökonomische Feier des Täuschens, die einzig fähig ist, eine Welt des schnöden Tauschens zu erlösen.
Nur selten strampelt sich ein eigener Ton aus all dem gesunkenen Kulturgut einer ehemals modischen Theorievulgata von Haut, Narben, Mythos, Palimpsest und Bricolage frei. Nicht umsonst ist Echo eine von Leupolds Lieblingsmusen. Die Dichterin praktiziert exakt, was sie – wieder in einem sehr hellsichtigen Moment – doch so genau analysiert: „Im post-auratischen oder pseudo-auratischen Zeitalter der Kulturindustrie, von Benjamin und Adorno so trefflich erfaßt, hat das (dichterische) Täuschen anscheinend seinen Ursprung vergessen und ist nur noch auf den Tausch versessen: Sinn gegen cash, Künstlichkeit ist nicht mehr die selbstkritische Reflexion über das eigene ‚Gemachtsein’, sondern Inszenierung von und Teilhabe an synthetischen Welten.“ Eine selbstkritische Dekonstruktion der eigenen Rolle im Betrieb hätte man hier nun gerne gelesen.
In all ihren Essays zur Literatur ist Leupold auf der Suche nach dem geheimen Stoffwechsel der Literatur, dem mysteriösen Metabolismus zwischen Erleben und Schreiben. Sie feiert ein körpernahes Dichten, das noch aus dem verschütteten Weißbier die Revolte des Unbewußten freilegen will (Barthes!). Ein solches somatische Dichten allerdings schimmert nur in einem einzigen der hier versammelten Texte durch. In dem titelgebenden Essay „Alphabet zu Fuß“, einem alphabetischen Katalog über das tagtägliches Ritual des Joggens, ahnt man, was mit einem Schreiben gemeint sein könnte, das ganz aus dem Körper kommt, in seinen hechelnden Lauf involviert ist. In diesem ersten Text des Essaybandes atmet der Leser die frische Luft der Poesie. Die restlichen 150 Seiten schnappt er im stickigen Mief der Tagungsräume nach Sauerstoff.
Dagmar Leupold: Alphabet zu Fuß. Essays zur Literatur. Verlag C. H. Beck, München 2005. 170 S., 17,90 Euro.