Nach zahlreichen Vampir-Romanen kehrte Anne Rice zurück zum katholischen Glauben. Jetzt überrascht sie mit einem ganz besonderen Untoten: Sie veröffentlicht die fiktive Autobiografie von Jesus Christus
“Nach draußen? Maximal für zwei Minuten.” Anne Rice zurrt an dem Tuch, das der Fotograf über ihr Sofa drapiert hat – als würde sie sich am liebsten in den schwarzen Stoff hüllen. Wie düster ihr Blick glänzt; beinahe wie ihr Bösendorfer- Flügel. Ob der Fotograf dieses Tuch durch ihre Pupillen direkt aus dem Dunkel in ihrem Kopf gezogen hat? Warum will sie ihren Bungalow nicht verlassen? Hat sich diese Königin der modernen Schauerliteratur schon so sehr den Schattenwesen aus ihren Vampir-Romanen angeglichen, dass sie beim ersten Kontakt mit dem Tageslicht zerfallen würde? Ist das der teuflische Preis für eine Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren? Der neue Roman
Nein, so kommt man nicht weiter. Man muss sich der distanzierten 65-Jährigen sachlich nähern. In ihrer ernsten Aura zerfallen all ihre Mythen zu Staub. Sie will nicht raus aus ihrem klimatisierten Bungalow in prunkvollem Hollywood-Barock, weil sie diabeteskrank ist und die Außentemperatur fürchtet: Da draußen liegt Palm Springs unter einer Gluthitze von 43,9 Grad Celsius. Die Hitze hat jegliche Farbe aus der Landschaft gesengt. Nur unter dem steten Ballett von 1001 Rasensprengern grünt es - aber sehr kontrolliert. Palm Springs ist das Reich strenger Gärtner. Ein Reich mit scharf gezogenen Grenzen: Gleich hinter Rices Garten flirrt die Mojave Desert. Dort gedeihen nur noch Gestrüpp und Klapperschlangen. Nach fast 20 Jahren im tropischen Klima von New Orleans ist Rice Anfang 2006 in die Wüste gegangen. Um einen Schnitt zu setzen; um in einer Landschaft zu leben, die im Einklang mit ihrer Seele steht. Sie konnte nicht mehr so weiterleben wie zuvor. Zu tief war der Wandel, den sie durchgemacht hatte.
Gute gegen Böse, Tod und Unsterblichkeit
Anne Rice macht keine halben Sachen. Bei ihr ist alles bigger than life. Nach 39 Jahren des Zweifels ist sie 1998 zum Glauben ihrer Jugend zurückgekehrt. Sie stammt aus einer katholischen Familie. Aus Freiheitsbedürfnis und sexueller Neugier hatte sie sich als junge Frau vom Katholizismus losgesagt. Selbst schwere Schicksalsschläge hatten sie nicht zurückbringen können. 1972 starb ihre fünfjährige Tochter Michele an Blutkrebs. Von da an wurde Blut zu Rices Obsession. Blut, Tod, Einsamkeit: Jeder ihrer Vampir-Romane variiert diese Themen. Gleich in ihrem ersten Buch, “Interview mit einem Vampir”, verlieh sie Michele posthum die Unsterblichkeit, indem sie die Tochter als Mädchen- Vampir auftreten ließ. Doch Trost fand Rice in ihren Gothic Novels nicht: Zusammen mit ihrem Mann, dem Dichter und Maler Stan Rice, versank sie für Jahre im Alkohol.