Jährlich wählt die altehrwürdige Schwedische Akademie den Gewinner des Literaturnobelpreises aus. Der Vorsitzende dieser geheimnisvollen Loge, Horace Engdahl, ist der mächtigste Literaturrichter der Welt
Sie sind uns dicht am Leib. Sie lauschen überall. Sie versuchen, unsere Firewall zu durchbrechen. Jeden Tag.” Da draußen lauert der Feind. Hier drinnen, in der Stockholmer Alten Börse, einem goldverzierten Rokoko- Palais aus dem 18. Jahrhundert, nur wenige Schritte vom klotzigen Königspalast entfernt, muss man zusammenhalten.
Dafür sorgt Horace Engdahl. Er ist der Vorsitzende der Schwedischen Akademie, die seit 1786 aus 18 Mitgliedern besteht. Ausschließlich Schweden. Ein Mitglied ist im Juli verstorben, zwei nehmen nach brutalen Machtkämpfen nicht mehr an den wöchentlichen Sitzungen teil. Trotzdem nennt man sie nur “De Aderton”, “Die Achtzehn”. Das klingt nach Logenbruderschaft, und genau das ist es: In streng geheimen Diskussionen und Abstimmungen bestimmen “De Aderton” alljährlich den Gewinner des Literaturnobelpreises.
“Es gibt nur einen Schutz für die Unabhängigkeit und Integrität der Akademie, und das ist Geheimhaltung”, sagt Engdahl, Akademiemitglied Nummer 17, in gestochenem Deutsch - er hat Kleist und Schlegel übersetzt. Sein Prunkbüro hat Stil: Kristalllüster, dicker Teppich auf Parkett und neben dem mächtigen Repräsentationstisch mit silbernem Tintenfass und Gänsekiel noch ein kleinerer Schreibtisch wie ein flinkes Beiboot. Nur Engdahls Bürostuhl ist von der funktionalen Hässlichkeit eines Pilotensessels. Der Vorsitzende würde sich wohl als Kampfpilot verstehen: “Mein Schreibtisch ist so eine Art Kampflager.”
In einer Ecke steht ein Baseballschläger: “Eine Warnung an Besucher.” Er sagt das mit einem Schmunzeln - einem kaum merklichen. Und beim Fototermin wirkt er so ungemütlich, dass man ihn gern aus der Reichweite dieses Prügels manövrieren würde. Aber der 58- Jährige nimmt nur ungern Anweisungen entgegen. Bei wortlosen Betätigungen wie Posieren oder Sitzen wirkt Engdahl hoffärtig - hier scheinen nur altertümelnde Worte dem Akademiker gerecht zu werden. Im Zwiegespräch hingegen entwickelt er beträchtlichen Charme. Und vor großem Publikum ist er unwiderstehlich.
Engdahl spricht leise, um sich Aufmerksamkeit zu sichern. Bei so viel Geheimniskrämerei darf man sich nicht wundern, wenn man die Neugierde anheizt: Selbst als gemäßigt investigativer Kulturjournalist packt einen im Machtzentrum der Weltliteratur schnell das Boulevardfieber. Verschlagen lauert man auf einen unbeobachteten Moment. Und plötzlich dreht man unter den missbilligenden Blicken der sieben Marmorbüsten von Engdahls Vorgängern den Filzstempel um, den Nummer 17 zum Trockentupfen seiner Tintenkorrespondenz benutzt.
Mit glühenden Ohren träumt man von verräterischer Spiegelschrift, die den nächsten Laureaten verkündet: nohcnyP samohT, remörtsnarT samoT, sinodA. Aber aus dem Filz orakeln nur abstrakte Tintenkleckse. Engdahl, ehemaliger Intelligence Officer der schwedischen Armee, hinterlässt keine Spuren. Nicht einmal spiegelverkehrte.
Bei Machtfragen läuft Engdahl zu staatsmännischer Hochform auf
Er hat die Sicherheitsvorkehrungen der Akademie sogar noch verschärft: Keine unverschlüsselten Kandidatennamen in E-Mails, Beratungsunterlagen werden nach jeder Sitzung vernichtet, und in der U-Bahn dürfen Bücher nur mit Tarnumschlägen gelesen werden, damit die Öffentlichkeit aus der Lektüre der stadtbekannten Akademiker keine Rückschlüsse ziehen kann. Wie fühlt man sich als mächtigster Literaturrichter der Welt? “Es gibt im Bereich des Geistes keine andere Macht als die anerkannte.” Bei Machtfragen läuft Engdahl zu staatsmännischer Hochform auf. In solchen Momenten neigt er zur Maxime, seine Spezialität, wie er mit seinem Aphorismenband “Meteorer” bewiesen hat.
Zeigt man nicht sofort begeistertes Einverständnis mit seinen Weisheiten, wird er ungeduldig: “Verstehen Sie den Gedanken? In anderen Bereichen gibt es Macht durch Druck und Zwang. Nicht in der Akademie. Ihre Position resultiert aus ihren anerkannten Beschlüssen.” Natürlich weiß auch er, dass die Akademie ihre Macht eben nicht aus ihren Beschlüssen gewinnen kann, denn die sind jedes Jahr umstritten. Gleich der erste Nobelpreisträger war ein Skandal: Als die alten Herren der Akademie 1901 den Preis an Sully Prudhomme und nicht an Leo Tolstoi vergaben, schickten 42 schwedische Schriftsteller und Künstler, unter ihnen auch August Strindberg und Selma Lagerlöf, eine öffentliche Solidaritätsadresse an den Russen. Seitdem schlägt die Wahl der Stockholmer Mandarine regelmäßig Skandalwellen. Der schwedische Kritiker Mats Gellerfelt fasst zusammen: “Der ideale Kandidat ist momentan wohl eine lesbische Asiatin.”