Er erdachte den Cyberspace, bevor man ihn programmieren konnte. Doch William Gibsons neues Buch ist kein Zukunftsroman: Die Gegenwart ist Science-Fiction genug
In einem Gibson-Roman stündest du jetzt irgendwo im Herrschaftsgebiet der Tokioter Nudelsuppenmafia vor einer Tür mit einer strahlensicheren Titan-Platin-Legierung und würdest von einem biometrischen Körperscanner erfasst. All deine kodierten SMS der letzten Wochen wären von einem russischen Hacker abgefangen und mithilfe einer taiwanesischen Entschlüsselungssoftware geknackt worden. Schließlich würdest du von einer holografischen Schriftstellersimulation eingelassen - aber nur mit sehr viel Glück.
Doch du bist nicht in einem Roman von William Gibson. Du stehst in Vancouvers Villenviertel vor Gibsons Haus, einem verspielten Holzbau mit architektonischen Versatzstücken aus Mittelalter und Renaissance. Eine Messingplakette am Eingangstor adelt das Haus als kanadisches Kulturerbe und datiert es aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Man staunt, dass die Postmoderne schon so viel älter ist, als man dachte. Bei Gibson hat die Postmoderne nicht einmal eine Klingel. Nur einen schweren Messingklopfer.
Nachdem man dreimal geklopft hat, tritt aus diesem pseudo-mittelalterlichen Knusperhäuschen der Vater des Cyberspace höchstpersönlich. 1982 erfand Gibson in seiner Kurzgeschichte “Burning Chrome” den Begriff und das Konzept “Cyberspace”. Heute fördert Google knapp zehn Millionen Treffer zutage für jenen Begriff, der schon bei Gibson ein computersimuliertes Universum beschreibt, in das sich vernetzte Nutzer einloggen.
1984 veröffentlichte Gibson seinen legendären Roman “Neuromancer”, der den Programmierern den Datenhighway in die digitale Wildnis wies und ihnen ihre Mythen und ihre Ästhetik schenkte.Erst fünf Jahre später entwickelte der britische Informatiker Timothy John Berners-Lee mit dem HTML-Standard das Werkzeug, mit dem man diesen mysteriösen Cyberspace überhaupt erst konstruieren konnte. In “Neuromancer” schuf Gibson mit seinem “Konsolen-Cowboy” Case den Typus des rebellischen Hacker-Bohemiens, der versucht, sich im Datenraum gegen die Macht obskurer Großkonzerne durchzusetzen. Der Roman vermischte bekannte Science-Fiction-Muster und die No-Future-Haltung der Punks. So entstand das neue Genre “Cyberpunk”, das die Lieblingslektüre aller Netz-Architekten wurde. Underground traf Hightech.