Stephan Maus

MAKING OF: Interview mit Top-Terrorist Ilich Ramírez Sánchez, genannt ‘Carlos’ (stern)

Als ich in der französischen Presse lese, der wegen mehrerer Morde zu lebenslanger Haft verurteilte Terrorist Ilich Ramírez Sánchez alias “Carlos, der Schakal” habe versucht, gerichtlich gegen Olivier Assayas’ großartigen dokumentarischen Spielfilm „Carlos, der Schakal” vorzugehen, vermute ich, dass der ehemalige Top-Terrorist Redebedarf hat. Vielleicht ließe sich Carlos zu einer Stellungnahme zur Verfilmung seines Lebens bewegen. Vielleicht ließe sich diese Stellungnahme sogar zu einem Gespräch über jahrzehntelanges Morden ausweiten.

Ich versuche, seine Pariser Anwältin Isabelle Coutant-Peyre dafür zu gewinnen, den Kontakt zu ihrem Klienten herzustellen, der in einem Hochsicherheitsgefängnis im französischen Poissy sitzt. Mme Coutant-Peyre ist nicht nur der Rechtsbeistand des Terroristen, sondern auch seine Lebensgefährtin. Während des Prozesses verliebte sie sich in ihren Klienten. Seitdem führen die beiden eine Beziehung durch Panzerglas. Isabelle Coutant-Peyre schätzt vor allem die “natürliche Autorität” ihres Lebensgefährten.

Die bekomme auch ich bald zu spüren. Carlos ist misstrauisch. Er bittet um sämtliche “stern”-Artikel, die jemals über ihn erschienen sind. Er sitzt seit 16 Jahren im Hochsicherheitsgefängnis. Natürlich darf er keine Interviews geben. Doch Verbote haben ihn noch nie interessiert. Um Mittelsmänner zu schützen, müssen die genauen Umstände des Gespräches im Dunkeln bleiben.

Ist der Kontakt erst einmal hergestellt und das Misstrauen etwas abgemildert, ist das gut einstündige Gespräch selbst nicht einfach zu führen. Schon akustisch ist Carlos sehr schwer zu verstehen. Immer wieder wird seine Stimme vom Lärm seiner Mitgefangenen überlagert. Einmal lenkt ihn der Imam ab, der ihn zum Freitagsgebet ruft – schon vor Jahren ist der Kommunist zum Islam übergetreten. Carlos spricht ein schnelles Französisch mit sehr starkem Akzent. Seine natürliche Redseligkeit wurde durch jahrelange Haft noch verstärkt.

Anfangs verschafft er sich erst einmal Respekt: Stephan Maus, den kenne er sehr gut. Doch, doch, sehr, sehr gut. Man solle nicht glauben, er habe nicht gelesen, was man bislang über ihn geschrieben habe. Nein, nein, das sei kein Missverständnis. Gleich zu Beginn erweist sich Carlos als Meister der unterschwelligen Drohung. Und dann mäandert er durch seine Erinnerungen, die mit arabischen Eigennamen gespickt sind. Es beginnt eine Achterbahnfahrt durch die Wirrnisse der internationalen Geheimdienst- und Terrornetze. Und natürlich ist alles ganz anders, als in den Geschichtsbüchern dargestellt.

Unterbrechungen seiner detaillierten Ausführungen schätzt Commandante Carlos nicht. Und sobald die Fragen nicht mehr Assayas’ Film zum Gegenstand haben, interveniert der strenge Rechtsbeistand. Mehrmals wird das Gespräch beinahe abgebrochen. Einzig geduldiges Zuhören stimmt den Terroristen wieder etwas milder. Auch die Autorisierung des Interviews ist mehr als ungewöhnlich. Carlos hat keine Probleme damit, ein Geständnis von 1500 Morden für den Druck freizugeben. Aber einen Grammatikfehler in der französischen Interviewabschrift toleriert er nicht. Wie jeder erfahrene Presseoffizier erbittet Carlos zwei Belegexemplare seines Interviews. Und dazu eine Kiste Cohibas.

Das Interview erschien am Donnerstag, den 12.08.2010, im “stern” (Heft 33).

Hier das Gespräch als PDF-Download