Sie wachsen auf in den Elendsvierteln bei Marseille. Einer wird Anwalt, einer Krimineller. Es läuft gut. Bis in der Unterwelt ein Krieg ausbricht
Großer Bruder Hamid, kleiner Bruder Hakim. 14 Jahre zwischen ihnen. Die Großen passen auf die Kleinen auf. So hatte Hamid es gelernt, als er selbst noch klein war. Damals, als Familie Ikhlef noch in Algerien lebte. Der Vater hatte ein Café in einem kleinen kabylischen Dorf in der Nähe der Hafenstadt Bidschaja. Dort war Hamid 1961 geboren.
Wenige Jahre später ging der Vater nach Europa. Bessere Arbeit finden. Er reiste allein. Schuftete in einem Kohlebergwerk in den Ardennen, gleich an der belgischen Grenze. Doch dort oben in den Minen des Nordens wurde er nicht glücklich. Das Licht fehlte, die Wärme, das Meer und die Gespräche im Abendlicht auf den Plätzen vor den Häusern.
Mit Plastikkanister zum Brunnen
All das fand er in L’Estaque, einem kleinen Fischerdorf bei Marseille. Ende des 19. Jahrhunderts hatte hier Paul Cézanne das gleißende Licht und die kräftigen Farben des Südens in seine Bilder überführt. Später hatte sich das Idyll in einen blühenden Industriestandort verwandelt. Stahlkräne rührten im Himmel. Eisenbahnviadukte überspannten in gewagten Konstruktionen die zerklüfteten Bergschluchten. Unter der kühnsten dieser Brücken erfand Georges Braques den Kubismus. Wo sonst als in dieser scharfkantigen Landschaft?
Das französische Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit befeuerte die Industrie von L’Estaque. Unersättliche Zementfabriken fraßen Kalk aus den Bergen. Ziegelbrennereien wühlten Ton aus der Erde. An Hafen und Bahnhof kamen Güterzüge voller spanischen Kupfers an, das in den Fabriken oben in den Hügeln weiterverarbeitet wurde. Überall wurden Arbeitskräfte gebraucht.
Vater Ikhlef wurde Wachmann in einer Zementfabrik.
Aus den ehemaligen Kolonien zogen immer mehr Migranten ins Land. Sie fanden nicht genügend Unterkünfte und siedelten auf Brachen. Ziegel, Zement, Hohlblocksteine, Bretter und Blech gab es auf dem Gelände der florierenden Firmen. Man improvisierte. Die Stadt ließ sie gewähren. So entstanden Slums. Ungeteerte Straßen, keine Elektrizität, kein fließend Wasser, keine Kanalisation, Unkraut. Verrufene Viertel. Hier ließ sich Vater Ikhlef nieder. Seine Familie kam nach. Sogar seine Mutter. In seiner Zementfabrik stieg er bald zum Hundeführer auf. Man sah ihn nur noch auf seinem Mofa durch die gleißende Landschaft fahren, seinen Deutschen Schäferhund an der langen Leine.
1975 wurde Hakim geboren. Da wohnten die Ikhlefs noch immer im Slum. Bald waren es insgesamt zehn Geschwister. Ein Zimmer für die Jungs, eines für die Mädchen, eines für die Eltern. Vater und Mutter sprachen kaum Französisch. Mussten sie auch nicht. Die Nachricht vom stetig wachsenden L’Estaque hatte sich in ihrer Heimat verbreitet. Viele Nachbarn aus Algerien ließen sich in dem Slum nieder. Mutter Ikhlef praktizierte ihren muslimischen Glauben, Vater Ikhlef hielt sich an die traditionellen Wertvorstellungen aus seinem Heimatdorf. Lesen und schreiben konnten beide nicht.
Sie hatten es nicht einfach, die Kinder auf den rechten Weg zu bringen. Erst als die Großen alt genug waren, sich um die Kleinen zu kümmern, bekam die Familie langsam Halt. Früh musste die älteste Schwester die Schule aufgeben, um auf ihre Geschwister aufzupassen. Alle fassten mit an, auch die ganz jungen. Jeden Morgen zog der kleine Hakim mit einem Plastikkanister über die staubigen Wege und holte Wasser vom öffentlichen Brunnen oben über dem Dorf. Anschließend begoss er die Köpfe der großen Brüder aus einer alten Konservendose. Einen nach dem anderen, bis alle ihre Morgentoilette erledigt hatten.
Geborgenheit
Für Hakim war es eine gute Zeit. Er erinnert sich noch an den schweren Geruch, der aus der fahrbaren Ölwanne aufstieg, mit der sie ihre Zimmer heizten. Geborgenheit. Nach der Schule trafen sich alle Kinder draußen auf dem großen Platz vor den Hütten zum Spielen. Von 6 bis 15 Jahren, alle dabei. Ein kleines kabylisches Dorf ganz nah bei Marseille, tosende Metropole mit all ihren Versuchungen.
Für Hamid war es eine stürmische Zeit. Er trieb sich schon früh mit einer Bande aus den Slums herum. Kabylen, andere Berber, Sinti und Roma. Alle sein Alter. Erste Migrantengeneration. Im Ausland geboren, auf den staubigen Brachen Frankreichs aufgewachsen. Mit Eltern, die kaum Französisch sprachen und die Schulzeugnisse nicht lesen konnten. Die vergessenen Kinder der “Trente glorieuses”, jener 30 goldenen Jahre des französischen Wirtschaftswunders. Ihre Slums hießen “Rue Pasteur”, “Vallon de Riaux” und “Campagne de Fenouil” – hier lebte Familie Ikhlef. Die Bande stahl Fahrräder, Motorräder, später dann Autos. Die Jungs kamen schon früh ins Gefängnis. Kurze Aufenthalte, immer alle gleichzeitig. Das schweißte sie zusammen. Sie machten neue Bekanntschaften, kamen auf neue Ideen. Die Delikte wurden schwerer.