Eigentlich hat sich unser Autor immer super gefühlt auf seinem Balkon. Aber seit Corona geht ein Ruck durchs Land: Jeder will sein Nest verschönern. Das schafft Druck. Stephan Maus hat sich mitreißen lassen und versucht, seine drei Quadratmeter zu optimieren. Gute Idee?
Unseren Bretagne-Urlaub haben wir wegen Corona abgesagt. Da wir kein Auto haben und wegen virenhaltiger Aerosole ganz sicher nicht in die Bahn steigen, werden wir den Sommerurlaub auf unserem Balkon verbringen.
Der Balkon ist knapp drei Quadratmeter groß und exakt nach Nordnordost ausgerichtet. Ich habe das mit einem Schweizer Militärkompass überprüft, mit dem wir uns im letzten Sommerurlaub unseren Weg durch die nordnorwegische Bergwelt gebahnt haben. Schon allein das gibt mir das Gefühl, unser Balkon sei ein verborgener Winkel hoch oben im Steingebirge über einem Hamburger Straßenfjord.
Vor dem Balkon rauscht eine Kastanie, die so alt ist, dass ihre arthritischen Äste mit vermoosten Gummibändern im Innern gesichert werden müssen. Im Halbschatten der Baumkrone sieht es aus wie in einem geheimnisvollen tropischen Bondage-Studio. Dieser Ausblick gefällt uns gut.
In der Kastanie landen schon früh morgens Blaumeisen und Gimpel und schauen, ob freie Bahn ist, bevor sie in eines unserer beiden Vogelhäuschen fliegen. Die Vögel haben die Wahl zwischen dem klassischen Modell „Schwarzwälder Försterhaus“ oder dem knallgelben Modell „Stanley Kubrick“ in optimistischem 70er-Jahre-Design.
Nische in wuchtigem Steinmassiv
Die Vögel machen ziemlich viel Dreck. Aber es ist ein gutes Gefühl, wenn man wenigstens etwas Besuch empfangen kann in diesen Zeiten.
Das Balkongeländer ist aus Schmiedeeisen. Links und rechts herrscht freie Sicht. Rechts, oben und unten befinden sich die Balkone unserer Nachbarn. So ist der Balkon tatsächlich so etwas wie eine windgeschützte Nische in einem wuchtigen Steinmassiv.
Die Nachbarin vom Nebenbalkon bekommt man nie zu Gesicht. Nur nachts schimmert manchmal das Glimmen ihrer Zigarette durch das blickdichte Milchglas, das unsere beiden Balkone trennt. In den seltenen Momenten, wenn wir doch einmal nebeneinander in unseren steinernen Winkeln sitzen, hat es sich so eingespielt, dass wir einander vollkommen ignorieren. Das klappt so gut, dass wir auf dem Balkon selbst intimste Gespräche führen können. Im Herrgottswinkel hoch oben im Steinmassiv braucht sich niemand zu schämen. Es ist ein wenig wie in einem Beichtstuhl, in dem absolute Diskretion gewährleistet ist.
Der Balkon ist der Privatstrand der Mittelschicht. Bühne und Rückzugsraum in einem. Etwas mehr als die Hälfte der Deutschen verfügen über einen Balkon. Also eigentlich eine recht demokratische Sache. Die Ethnologin Stefanie Heinrich hat Balkone erforscht und unterscheidet mehrere Typen: Den „Philosophiebalkon“ zieren Sinn- oder Protestsprüche auf alten Bettlaken. Der „Flaggenbalkon“ zeugt von patriotischem Gefühl. Der „Schmuckbalkon“ soll Passanten mit reicher Weihnachts-, Oster-, Zwergen- oder Simpsons-Deko beeindrucken. Der „Haustierbalkon“ bietet Katzen, Vögeln oder kaukasischen Fassadenhamstern ein luftiges Freigehege.
Der Herrscher blickt von seinem Balkon
Unser Balkon ist eine Mischung aus mönchischer Studierstube und klassischem Herrscherbalkon. Mal sitzen wir hier tief versunken in die Lektüre neuester Baumarkt-Prospekte. Mal richten wir uns stolz auf, thronen über unserem Reich und lassen unseren Blick gütig über all unsere treuen Untertanen schweifen, die auf der Straßenkreuzung emsig ihren Tagesgeschäften nachgehen und uns reichliche Steuereinnahmen bescheren. Wenigstens war das vor der Corona-Krise noch so. Wie soll es bloß weiter gehen? Kurz überlegen wir, ob wir wie Karl Liebknecht 1918 eine ganz neue Republik ausrufen sollen, besinnen uns aber schnell eines Besseren und lassen uns wieder nieder, um weiter die Leitz-Ordner mit unseren gesammelten Baumarkt-Prospekten zu studieren.
Wir sind keine besonders chaotische Familie. Aber leider hat unser Balkon ein spezielles Gravitationsfeld, das dafür sorgt, dass sich dort noch mehr Kram pro Quadratmeter ansammelt als unter einem gewöhnlichen Kinderhochbett.
Am augenfälligsten ist sicherlich unsere neue Flugabwehranlage im südöstlichen Winkel. Seitdem dort ein Taubenpärchen seit Wochen versucht, unter einer Bank aus verwittertem Tropenholzimitat ein Nest zu bauen, ist die ganze Ecke mit alten Pappkartons verbarrikadiert. Das sieht recht feierlich aus, denn die Kartons stammen aus der Weihnachtsedition 2015 der Deutschen Post.
Am Balkongeländer hängt eine Art Traumfänger aus etwa einem Dutzend selbstgebrannter Raggamuffin-CDs, die wir mit Geschenkband aneinander gebunden haben. Das Internet behauptet, die Lichtreflexionen auf den CDs würden die Tiere zuverlässig verjagen. Die Lichteffekte sind tatsächlich super, schrecken allerdings die Tauben nicht im geringsten. Die scheißen einfach weiter ungehemmt das Geschenkband voll. Vielleicht ist das einfach ihre Art, ihre Wertschätzung für Raggamuffin auszudrücken.
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