Wo heute die Nordsee ist, lebten vor 8000 Jahren Menschen. Von Husum bis Dover erstreckte sich fruchtbares Land. Mit dem Abschmelzen der Eisschilde der letzten Kaltzeit kamen die Wellen. Jäger und Sammler kämpften mit dem Klimawandel
Die Menschen in dieser Geschichte sind Jäger, Sammler, Fährtenleser. Sie versuchen zu verstehen, wie der Menschheit eine ihrer größten Kulturleistungen gelungen ist: die Anpassung an dramatisch wechselndes Klima. Sie suchen eine Welt, die unwiederbringlich verschwunden ist. Beschwören ein Land, in dessen Mitte Themse und Rhein in einem riesigen See zusammenflossen. Die Menschen in dieser Geschichte suchen nach dem Herzen von Europa.
Es gab ein europäisches Paradies. Ein Land des Überflusses, der reichen Böden. Es ist untergegangen, vor mehr als 8000 Jahren. Hunderttausende Jahre lag es zwischen der Küste der britischen Grafschaft Suffolk und den Niederlanden. Dort, wo heute die Nordsee wogt, war Festland. Vor der letzten großen Eiszeit wanderten dort Mammutherden über die sanften Hügel einer ausgedehnten Steppenlandschaft. Auerochsen, Bisons und Wollnashörner grasten auf weiter Flur, umschlichen von Säbelzahnkatze, Höhlenlöwe und Riesenhyäne.
Steinzeitparadies
Nach der letzten Kaltzeit waren die großen Urzeittiere verschwunden. Nun zogen Hirsche und Kleinwild über die Ebenen. Je wärmer es wurde, desto höher stieg der Meeresspiegel. An den Ufern entstanden Sümpfe. Wo zuvor Kaltsteppe war, wucherte nun dichter Wald.
Kleine Gruppen von Jägern und Sammlern, die am Mittelmeer die Eiszeit überstanden hatten, durchstreiften die nördlichen Landschaften auf der Suche nach Beute. Erst brachte der steigende Meeresspiegel Fruchtbarkeit, dann Zerstörung. Das Steinzeitparadies wurde immer kleiner. Immer mehr Jäger und Sammler zogen sich in das heutige Großbritannien zurück. Die Vorfahren vieler Brexit-Wähler sind prähistorische Klimaflüchtlinge.
Mit fortschreitender Erderwärmung fluteten immer gewaltigere Wassermassen von den abschmelzenden Gletschern Nordamerikas an die Küsten Europas. Die Wucht der Wellen und der wachsende Druck von sich ablagernden Bodensedimenten setzten die Gestade großer Belastung aus. An der Küste Norwegens löste sich eine riesige Landmasse und stürzte in den Atlantik. So groß war dieser Brocken, dass er einen gigantischen Tsunami verursachte. Auf den Shetland-Inseln brachen sich mehr als 20 Meter hohe Wellen. In der Nähe des schottischen Inverness wurden Steinzeitmenschen an ihrem Lagerfeuer überrascht. Archäologen fanden dort eine prähistorische Feuerstelle, die mit einer 25 Zentimeter dicken Sand- und Kiesschicht bedeckt war.
Der Tsunami schwemmte die letzten Reste der Landbrücke zwischen Großbritannien und den Niederlanden hinweg. Das europäische Jäger-und-Sammler-Paradies war untergegangen. Archäologen nennen die versunkene Welt “Doggerland”.
Mensch und Wasser, eine Wechselbeziehung von Wertschöpfung und Zerstörung
Die britische Schriftstellerin Julia Blackburn wandert mit weit ausholenden Schritten hinunter zum Meer. In der Ferne zeichnen sich Baumskelette vor dem golden leuchtenden Strand von Covehithe ab. Das hier ist Großbritannien. Noch immer Europa. Man soll es kaum glauben. Dieser Streifen lehmiger Steilküste ist eine Fundgrube für Fossilienjäger. Immer wieder blitzen Überreste einer untergegangenen Welt zwischen den Strandkieseln auf. Im Mittelalter war Covehithe ein prosperierender Hafen. Doch die einstige Pracht ist weggespült. Vom ehemaligen Glanz zeugen heute nur noch die Ruinen der mächtigen Kathedrale. Der Ort hat mit die höchste Erosionsrate Großbritanniens. Mensch und Wasser, eine Wechselbeziehung von Wertschöpfung und Zerstörung.
Zielstrebig steuert Julia Blackburn auf einen schwarzen Klumpen im Sand zu. Bückt sich nieder, drückt ihre Finger in schmatzenden Torf und sagt triumphierend: “Ein Stück Doggerland.” Verrottete Wälder, Farne und Büsche aus dem untergegangenen Steinzeitparadies. Konserviert in den Tonschichten auf dem Meeresboden, von den Gezeiten freigespült und an Land geworfen.
Das klare Licht lässt die bröckelnde Lehmküste von Covehithe in sanften Ockerfarben erstrahlen. Schicht um Schicht türmen sich am Steilufer die Epochen aufeinander. Abbruchkante der Zeit. Davor liegt das Meer wie eine graue Folie. Blackburn schaut über die weite Nordsee und sagt: “Schmutzig und grau wie immer. Sieht solide aus. Man hat das Gefühl, man könnte drüberlaufen.”