Warum beschäftigen wir uns mit dem Bösen, wollen das Verbrechen verstehen? Weil es unsere Vernunft herausfordert
Am Morgen des 11. Januar 2006 zerrt der 36-jährige Mario Mederake die 13-jährige Stephanie R. von der Straße in sein Auto. Er hält sie fünf Wochen lang in seiner Wohnung gefangen. Verlässt er die Wohnung, steckt er Stephanie in eine Holzkiste. Er vergewaltigt das Mädchen wieder und wieder.
Warum lesen Sie hier überhaupt weiter? Warum legen Sie dieses Heft voller Mord und Grauen nicht einfach beiseite? Warum wenden wir uns nicht ab, wenn wir mit dem Unfassbaren konfrontiert werden? Warum sperren wir es nicht weg, schließen es aus der Gesellschaft aus, vergessen all die Albträume? Woher kommt die Faszination des Bösen? Warum will der Mensch das Unsägliche ergründen? Warum das Verbrechen verstehen?
Im Mittelalter betrachtete man die Tat und bestrafte: Eiserne Jungfrau, Strang, Scheiterhaufen. In modernen Rechtssystemen versucht man nachzuvollziehen, wie es zu der Tat kam. Nur wer die Umstände einer Tat kennt, kann ihren Urheber gerecht bestrafen. Nur wer erklären kann, wie ein Mensch zum Verbrecher wurde, kann eine Prognose über seine Zukunft abgeben, die ebenfalls in die Straffindung einfließen muss.
Gerade bei unfassbaren Verbrechen muss ein psychiatrischer Gutachter das Innerste des Täters zu durchleuchten versuchen, um entscheiden zu können, ob er das Unrecht seiner Tat gesehen und sie trotzdem vollbracht hat. Er muss feststellen, ob ein Täter krank oder böse ist. Erst dann kann entschieden werden, ob er geheilt oder bestraft werden muss. Erst wer eine Tat verstanden hat, kann Gerechtigkeit walten lassen.
Für Stammtisch und Boulevard war der Vergewaltiger Mario Mederake nichts als ein triebgesteuerter Unmensch, ein Unhold, ein Monster. Schwanz ab! Lebenslänglich! 122 Seiten verfasste Gutachter Hans-Ludwig Kröber, Professor für forensische Psychiatrie, über Mederake. Kröber kam zu dem Schluss, dass Mederake eben kein Monster war. Sondern ein Hochbegabter, der zum Verbrecher wurde. Doch erklären heißt nicht entschuldigen. Im Gegenteil. Kröber erklärte, Mederake sei nicht etwa gefangen im Wahn, sondern habe gewusst, dass er seinem Opfer unsägliches Leid zufügte. Für den Psychiater war dieser Täter voll schuldfähig. Mario Mederake wurde zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Banalität des Bösen
Die Analyse einer grausamen Tat kann das Verständnis einer ganzen Epoche prägen. 1961 reiste Hannah Ahrendt als Reporterin des US-Magazins „The New Yorker“ nach Jerusalem, um den Prozess gegen Adolf Eichmann zu beobachten. Ihr Bericht erschien in fünf Artikeln und wurde 1963 zu einem Buch zusammengefasst.
Von 1942 bis 1945 organisierte Adolf Otto Eichmann die Deportation und Vernichtung von über sechs Millionen Juden. Er inspizierte alle großen Vernichtungslager, um den Massenmord vom Schreibtisch aus optimieren zu können. „Wenn diese Sache einmal gemacht werden musste, dann war es besser, wenn Ruhe und Ordnung herrschten und alles klappte“, sagte er später.
Ahrendt zeigte Eichmann nicht als Dämon, sondern als Verwaltungsbürokraten, wie es sie zu Millionen in modernen Gesellschaften gibt. Für Ahrendt verkörperte Eichmann die „Banalität des Bösen“. Der Begriff wurde zum geflügelten Wort. Das Konzept banalisiert nicht etwa die Taten des Nazis, sondern analysiert die Bedingungen, unter denen eine Gesellschaft jemanden wie Eichmann hervorbringen kann.
Das Böse, das sich in dem „Verwaltungsmassenmörder“ (Ahrendt) Eichmann exemplarisch zeigte, entsprang einer von allen humanen Werten entkernten Bürokratie. Mit ihrer Analyse hatte Ahrendt Eichmann zurück in den Kreis der Gesellschaft geholt. Nach ihrer Studie konnte man den Nationalsozialismus nicht mehr als eine über eine Gesellschaft hereingebrochene Tragödie begreifen, als einen Unfall der Geschichte. Steht die moderne Verwaltungsbürokratie erst einmal einem mörderischen System zur Verfügung, potenziert sie dessen Macht. Verstehen heißt vorbeugen.