Stephan Maus

cd — title: “ABSOLUTE GIGANTEN: Glenn Gould und Swjatoslaw Richter in Moskau” date: 2020-06-02T21:03:25+02:00 draft: false tags: [“sudelblaetter”]

Sorry, image missing!

Glenn Gould und Swjatoslaw Richter in Moskau, Mai 1957

Im Mai 1957 unternahm der 24-jährige kanadische Wunderpianist Glenn Gould eine Konzertreise in die Sowjetunion. Es war die erste Tournee eines nordamerikanischen Pianisten in der Sowjetunion. Der Kalte Krieg war auf seinem Höhepunkt. Doch seit Stalins Tod im Jahre 1953 herrschte auch vorsichtige Hoffnung auf Öffnung.

Auf dem Programm von Goulds Moskauer Konzert stand hauptsächlich Bach. Gould hatte 1955 bei der US-Plattenfirma “Columbia” mit Bachs “Goldberg-Variationen” sein Debütalbum aufgenommen. Seine eigenwillige Interpretation dieses Höhepunktes der barocken Klavierliteratur galt als Revolution. Die Schallplatte wurde eine der einflussreichsten Aufnahmen der Musikgeschichte. Doch in der Sowjetunion kannte niemand die Platte. Überhaupt stieß der geistliche Komponist Bach in dem atheistischen Staat auf wenig Interesse.

So stand Glenn Gould vor einem halb leeren Saal, als er am 12. Mai 1957 im Moskauer Konservatorium auf die Bühne trat. Doch nach dem ersten Teil des Konzerts war das russische Publikum wie elektrisiert. In der Pause eilten die Menschen zu den öffentlichen Telephonen und riefen Freunde und Verwandte an: “Hier spielt ein Genie! Kommt schnell! So etwas habt ihr noch nie gehört!” Nach der Pause war der Saal voll besetzt. Wer keinen Platz mehr fand, blieb einfach stehen.

Unter Goulds Moskauer Zuhörern war auch der damals 42-jährige Swjatoslaw Richter. Schon damals galt er als einer der größten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Was auch immer solch ein Urteil genau bedeuten soll. Richter war Schüler des bedeutenden Klavierpädagogen und Pianisten Heinrich Neuhaus gewesen, der ihn gefördert und beschützt hatte. Jahrelang hatte Richter unter Neuhaus’ Flügel geschlafen. Glenn Gould selbst sollte später über Richter sagen, er sei “einer der kraftvollsten Vermittler, die die Welt der Musik in unserer Zeit hervorgebracht hat”.

Nach Goulds Darbietung der “Goldberg-Variationen” blieb Richter 30 Minuten lang stehen, einsam applaudierend und erschöpft vor Begeisterung. Er entschied, dieses Stück niemals mehr selbst zu spielen.